Visuelle Wahrnehmung oder die Macht der Bilder

08.06.16, 8:37

Warum grafische Formen schneller wahrgenommen werden als Texte

Wer heute Redakteur oder Medien-Designer ist, muss sich nicht nur Gedanken darüber machen, in welche Worte er die Inhalte kleidet, die er vermitteln will. Es geht vielmehr darum zu überlegen, wie Textteile grafisch umgesetzt werden, damit sie das Auge schneller erreichen und Aufmerksamkeit erregen. Warum finden eigentlich visuelle Formen wie Infografiken oder Bildgeschichten mehr Beachtung als Texte?

Imaginary Factory - Jing Zhang
Infografiken erwecken auf den ersten Blick die Aufmerksamkeit des Betrachters und erreichen dadurch eine längere Verweildauer. Komplexe Zusammenhänge werden vereinfacht und anschaulich illustriert dargestellt. (Quelle: Jing Zhang)


Paradigmenwechsel in der Kommunikation: Von der Sprache zum Bild

Wir sind Augenmenschen. In der Entwicklungsgeschichte der Menschheit hat sich das kommunikative Miteinander vom Wort zum Bild entwickelt: Vom Zeitalter der gesprochenen Sprache ging es über die geschriebene Sprache ins ikonografische Zeitalter der Bilder. Es wird weniger am Stück gelesen und mehr geschaut. Da die Informationsmenge insgesamt sich vervielfacht hat, erhalten Informationen, die schnell wahrgenommen werden können, Priorität.

Im Zeitalter der Bildhaftigkeit: Visuelle Formen funktionieren schneller

Man könnte die Kommunikationszeitalter auch anders einteilen: In die persönliche Kommunikation von Angesicht zu Angesicht und in die technisch unterstützte. Bereits durch das Telefon oder Massenmedien wie Zeitung, Zeitschrift, Buch, Fernsehen und Radio hat diese technisch unterstützte Kommunikation ihren Siegeszug angetreten. In Form des Internets sind visuelle Medien, Audiomedien und audiovisuelle Medien miteinander verbunden bzw. gehen ineinander über. Dadurch hat sich die Geschwindigkeit des Informationsdurchsatzes noch weiter erhöht und die Verweildauer verringert – dies bezieht sich sowohl auf das Lesen als auch auf das Schauen. Einen weiteren Blick ist vieles nur wert, wenn es sich beim schnellen Erstkontakt erschlossen hat. Und das geht am besten über Bilder, wie kreative Infografiken.

Curriculum Vitae - Anton Yermolov
Nicht nur bei komplexen Themen oder Inhalten wird auf die Bildsprache zurückgegriffen, auch Bewerbungen in der Kreativbranche sind zunehmend visualisiert. (Quelle: Anton Yermolov)


Infografiken für mehr Anschaulichkeit bei Zahlenmaterial

Am besten zeigt sich die Tendenz zur Bildhaftigkeit bei den Printmedien. Große Tageszeitungen sind inzwischen vierfarbig geworden und arbeiten mehr und großformatiger mit Bildern. Nachrichtenmagazine wie Spiegel oder Focus arbeiten zur Veranschaulichung von Sachverhalten mehr mit Schaubildern und Infografiken. Wenn es zum Beispiel um die Berichterstattung rund um politische Wahlen geht, geht schon seit Langem nichts mehr ohne Infografiken. Längst überzeugt reines Zahlenmaterial in einem Text nicht mehr. Es würde kaum wahrgenommen werden, wenn es nicht grafisch aufbereitet wäre. Eine grafische Aufbereitung legt die Wahrnehmungsschwelle tiefer.

Wiedererkennungswerte und visuelle Anker für die bessere Wahrnehmung

Selbst aber die kleinteiligere Strukturierung von Texten durch mehr Zwischenüberschriften oder eingeschobene Infokästen bedeutet schon ein Zugänglichmachen. Auch ist die typografische Aufbereitung von Texten bereits eine Erleichterung. Farbigkeit, kursiv oder fett stellen von Schriften oder der Einsatz von Zwischenüberschriften helfen im Kleinen dabei, Informationen besser wahrnehmbar zu machen. Untersuchungen haben gezeigt, dass bei der schnellen und sprunghafteren Wahrnehmung von Texten im Internet kürzere Sätze und vereinfachte Satzkonstruktionen oft helfen, die Texte wahrnehmen und verstehen zu können. Ein „nackter“ Text allein bietet keine visuell wahrnehmbaren Anker. Erst Bilder oder Bildelementen verbessern das Erinnern an die Inhalte. Grafische Elemente wie Illustrationen, Logos oder Piktogramme schaffen Wiedererkennungswerte und sind visuelle Anker, an denen sich das Auge orientieren kann.

Die grafische Aufbereitung nimmt dem Betrachter Arbeit ab

Eine grafische Interpretation von Textinhalten trägt zur Anschaulichkeit bei. Grafiken entlasten das Gehirn beim Interpretieren von Textinhalte; denn die Interpretation des Gesehenen kostet Zeit. Eine Infografik hilft dabei, Inhalte schneller erfassen zu können. Das geschieht über eine Strukturierung und Hierarchisierung: Die Aussagen, die man treffen will, werden in einer sinnvollen Reihenfolge nach Wichtigkeit geordnet. Komplexität wird vereinfacht. Aus einem großen Stück werden viele kleine „Häppchen“, die man besser verdauen kann und die den Einstieg zum Thema erleichtern. Eine Rolle spielt dabei immer, dass prägnante Bilder die genannte Ankerfunktion bringen. Ob bei der Doppelseite in einer Illustrierten, auf einer Webseite oder in einer App: Der Betrachter schaut zuerst auf die Bilder, wird auf Überschriften, Bildunterschriften oder Zwischenüberschriften geleitet, um dann bei Interesse in den Text hineinzulesen. Grafiken und Bilder erleichtern den Zugang und legen die Schwelle tiefer, sich mit einem Text bzw. Inhalt auseinanderzusetzen. Bilder und grafische Darstellungen sind in Sekundenbruchteilen für einen ersten Eindruck zu erfassen. Bei Texten müsste man erst hineinlesen – was länger dauern würde.

Die anschauliche Aufbereitung von Fakten in Form eines leicht verständlichen Bildes am Beispiel der „Daily:News“. (Quelle: lukasz a. pachalko)


Die visuelle Form als Sprache, die die Augen sprechen

Ob man als Wahrnehmender will oder nicht, um sich orientieren zu können, ist man mehr als früher auf vereinfachte visuelle Signale und Systeme angewiesen. Und darauf, dass komplexe Inhalte komprimiert werden, indem sie bildhafter aufbereitet werden. Das Bild ist ein schnelleres Medium als ein Text, der über einen Satz hinausgeht – vor allem für den ersten Eindruck. Als Wahrnehmender lernt man mehr und mehr, sich eher an Visuellem zu orientieren, zum Beispiel am Flughafen oder am Bahnhof über ein Leitsystem. Viele Konzernstrukturen sind nur noch über Schaubilder und Organigramme zu verstehen. Komplexe Systeme wie der Straßenverkehr sind über die Verkehrsschilder zeichenorientiert. Die Kurzsprache unserer Welt ist das Bild.

Infografiken veranschaulichen komplizierte Zusammenhänge

Über eine Bilderinnerung erfolgt außerdem ein besseres Aufrufen komplizierter Zusammenhänge. Manche politische oder technische Zusammenhänge sind in der Gesamtschau schwer zu erfassen und zu verarbeiten. Werden zum Beispiel Parteiprogramme nach Themen geordnet in einer Tabelle nebeneinandergestellt, ist eine Vergleichbarkeit viel einfacher als würde man lange Texte dazu schreiben.

History of Life - Juan David Martinez
Auch komplexe Themen, wie zum Beispiel die Evolutionsgeschichte unseres Planeten, können anhand von Bildern und Infografiken so vereinfacht werden, dass sie, im Gegensatz zu Texten, auf den ersten Blick zu verstehen sind. (Quelle: Juan David Martinez)


Grafik-Design als Türöffner zur Aufmerksamkeit

Ein beträchtlicher Teil dessen, was wir wahrnehmen, erreicht uns über das Sehen – nämlich etwa 80% aller Informationen. Dabei können sich Print und Web ergänzen. Die Informationsaufnahme im Internet ist oftmals schneller, aber auch oberflächlicher. Die Verweildauer einer Drucksache wie einer Broschüre, die man unter Umständen mehrmals in die Hand nimmt, kann länger dauern. Ein wichtiger Faktor für die Werbewirkung, bezieht sich darauf, inwieweit der Betrachter bereit ist, sich auf eine vertiefende Information zu konzentrieren. Konzentration ist ein knappes Gut in der Welt der Informationsüberflutung. Erste Eindrücke verschafft sich der Leser innerhalb von Millisekunden: Je ansprechender also die grafische Umsetzung, desto eher besteht die Bereitschaft, die Aufmerksamkeit konzentriert darauf zu richten. Visuelle Formen sind Textinformationen deshalb überlegen, weil sie eine Türöffnerfunktion zur Aufmerksamkeit des möglichen Kunden haben.

Schon ein Eyecatcher auf dem Titelblatt in Form einer Illustration sorgt beim Betrachter für Aufmerksamkeit. Sind die Innenseiten ebenfalls entsprechend aufwändig gestaltet, ist eine hohe Verweildauer am Medium fast garantiert. (Quelle: The Design Surgery and Arunas Kacinskas)


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