Wie vermitteln Superschriftfamilien zwischen Serifenschriften und Serifenlosen?

04.02.14, 9:02

Typografie der neuen Möglichkeiten

Die Tendenz in der Typografie geht hin zu immer kompletteren Schriftfamilien. Das können Großfamilien sein oder Superfamilien. Großfamilien bleiben in ihrer Schriftklasse, also ergänzen ihre Schrift zum Beispiel um neue Fettegrade, echte Kapitälchen usw., Superfamilien überwinden die Grenze zwischen Antiqua-Serifenschriften (Serif) und Grotesk-Serifenlosen (Sans) und wollen damit die Vorteile beider Welten bieten, um die typografischen Möglichkeiten zu erweitern.

Typografie im Screendesign

Die klassische Typografie kam mit wenig Schriftschnitten innerhalb einer Schriftfamilie aus. Es gab die Regular-/Book-Version einer Schrift, eine Kursive, eine Fette und eine Fettkursive. Inzwischen gibt es in der Regel zusätzlich die „Light“, eine Halbfette, die Semibold, und schwerere Schnitte als Heavy- oder Ultrabold-Varianten. Außerdem kamen Condensed-Versionen hinzu, die nicht nur platzsparend sind, sondern auch spannungsreicher gerade bezogen auf ihren Einsatz in der Werbung und im Editorial-Design bei der Zeitschriftengestaltung. Zunehmend wichtiger ist der Einsatzbereich Multimedia-Design und Webseitengestaltung geworden – vor allem, seit man Schriften serverseitig einbinden kann und damit auch für Internetseiten Corporate-Design-Schriften verwenden kann.

Schriften im Corporate-Design-System

Aber damit nicht genug. Gerade Corporate Design-Systeme verlangen oft mehr typografische Harmonie im Miteinander zwischen Serifen-Schriften und serifenlosen Schriften. In der traditionellen Typografie wurden serifenlose Grotesk-Schriften eher für Überschriften eingesetzt, während die Antiqua-Serifenschriften für den Mengensatz genutzt wurden. Daraus ergab sich eine Kontrastwirkung zwischen schwerer Überschrift und leichterer Brotschrift.

Informelle Schriftvarianten zwischen Sans und Serif

Modernere Auffassungen von Grafik-Design und Typografie wollten auch deshalb mehr Gemeinsamkeiten zwischen beiden Schrift-Klassen, um das visuell Verbindende und Gemeinsame zu betonen. Zugleich können immer mehr Schriftfamilien, die zwischen Serifenfonts und Groteskfonts vermitteln wollten, eine dritte hybride Variante dazwischen vorweisen.

Egyptienne-Schriften als Brückenschlag zwischen Grotesk und Antiqua

Diese Zwischenschrift ist manchmal nur eine Slab-Variante – auch genannt Egyptienne -, das heißt, diese Schrift hat betonte Serifen, die in einer Strichstärke vorhanden sind, die in etwa der des restlichen Buchstabenkörpers entspricht. Diese deutlichen Slab-Serifen haben nichts von der Feinheit von Antiqua-Schriften wie Times oder Garamond, es sind Groteskschriften mit abstrahierten und konstruierten Serifen.

Die Rotis, eine der meist verwendeten Schriften.

Oben: Die Rotis, eine der meist verwendeten Schriften, ist ein viergliedriges Schriftsystem, das zwei Zwischenstufen zwischen Antiqua und Grotesk enthält. Von oben nach unten: Rotis Serif, Rotis Semiserif, Rotis Semi Sans und Rotis Sans.

Die Rotis von Otl Aicher: Vierstufige Super-Schriftfamilie

Andere Konzepte, wie das Otl Aicher bei seiner Rotis realisiert hat, entwickelten hybride Zwischenformen. Bei der Rotis gibt es eine Sans und eine Serif, aber auch eine Semi Sans, die die Anmutung der Sans hat aber zugleich leicht moduliertere Strichstärken, und eine Semiserif, die gegenüber der Serif reduzierte Serifen hat und zum Teil wie eine Grotesk ausläuft.

Die schmal laufende, feine „Corporate A“ aus der Schriftfamilie „Corporate ASE“.

Oben: Die schmal laufende, feine „Corporate A“ aus der Schriftfamilie „Corporate ASE“, der Konzernschrift von Mercedes und Daimler, hatte bei ihrem Erscheinen 1990 direkt die Werbekampagne der Werbeagentur Springer & Jacoby für Mercedes Pkw in großen Schriftgraden visuell geprägt.

Die Serifenlose „Corporate S“ (Sans).

Oben: Die Serifenlose „Corporate S“ (Sans) kam vor allem im Nutzfahrzeugbereich von Mercedes zur Anwendung.

Die „Corporate E“

Oben: Die „Corporate E“, die Egyptienne oder Slab-Serif-Variante innerhalb der „Corporate ASE“, ist das von seiner Formensprache her modernste Mitglied der Schriftfamilie. Günther Gerhard Lange, der legendäre typografische Direktor von Berthold, hat Kurt Weidemann bei ihrer fünfjährigen Entwicklung beraten.

Corporate ASE von Kurt Weidemann: Eleganz trifft Bodenständigkeit

Kurt Weidemann hat mit seiner Schriftfamilie „Corporate ASE“ (Antiqua, Sans, Egyptienne) eine feingliedrige Serifenschrift mit einer klaren Serifenlosen kombiniert und quasi als Form dazwischen eine bodenständige Egyptienne gewählt. Eine ergänzende Egyptienne einer Schrift, die bereits Serifenschrift und Serifenlose enhält, an die Seite zu stellen, ist ein weit verbreitetes Konzept. Zumal es für den Schriftenentwickler ein einfacherer Schritt ist, von einer Grotesk eine Egyptienne (=Slab Serif) abzuleiten.

Von oben nach unten: Stone Sans, Stone Serif und Stone Informal.

Oben: Bei der Entwicklung der Stone traf eine neue Technologie für das Entwerfen und Digitalisieren von Schriften am Bildschirm auf ein neues ästhetisches Verständnis. Von oben nach unten: Stone Sans, Stone Serif und Stone Informal. Die runderen, rudimentäreren Serifen eignen sich besser für die Bildschirmdarstellung, und auch beim Faxen und Kopieren blieb der Charakter der Stone Informal besser erhalten.

Stone von Sumner Stone und Bob Ishi: Geburt einer neuen Zwischenform

Eine weitere berühmte Schriftart ist die Stone, die mit dem Aufkommen des Desktop-Publishing in den 1980er Jahren die erste vollständig digital entwickelte Superfamilie geworden war. Gestaltet worden war sie von Sumner Stone, der damalig Typografischer Direktor bei Adobe gewesen ist, und Bob Ishi. Zur Stone Sans und Stone Serif gesellte sich als Zwischenform eine moderne Informal mit reduzierten, gerundeten und verdickten Serifen. Damit verfolgte die Schrift ein ähnliches Konzept wie später die Rotis. Es war der Wille des Gestalters zu spüren, eine Schrift zu kreieren, die zeitgemäßeren Erfordernissen wie der Bildschirmdarstellung oder der Bürokommunikation gerecht werden konnte. Die Stone hat in gewisser Weise ein neues typografisches Zeitalter eingeläutet. Seit ihrer Entwicklung haben zahlreiche Versuche, typografische Hybridversionen zwischen Sans und Serif zu schaffen, in die Welt der Schriften Einzug gehalten.

Mr Eaves und Mrs Eaves scheinen in trauter typografischer Eintracht zu leben.

Oben: Mr Eaves und Mrs Eaves scheinen in trauter typografischer Eintracht zu leben. Von oben nach unten: Mr. Eaves Modern und Mr Eaves Sans, Mrs Eaves und Mrs Eaves Serif.

„Mrs Eaves“ und „Mr Eaves“ von Emigre: Die Schrift mit den Feinheiten

Die Fontschmiede Emigre stand seit den ersten Tagen der digitalen Schriftkultur ganz vorne mit höchst originellen Schriftentwürfen. Sie nennt bei einer zwischen 1996 und 2006 entwickelten Schriftfamilie ihre Serifen-Variante „Mrs Eaves“ und die Serifenlose „Mr Eaves“, verortet die feinere und geschwungenere Formensprache der Serifen also im Weiblichen und die kantigere und linearere Ausformung der Serifenlosen im Männlichen. Dabei ist interessant, dass es zwei Serifen-Varianten gibt, bei der unterschiedliche Verhältnisse zwischen Gemeinen und Versalien, also Klein- und Großbuchstaben, zu finden sind. Auch die Grotesk-Form bekommt mit der „Modern“-Variante eine zweite noch reduziertere Schrift an die Seite gestellt. Man kann hier also zwischen sehr serifenbetonten Schriftformen und reduzierten Formen und den herkömmlichen Formen dazwischen wählen. Ein interessanter Ansatz. Hier liegen die Unterschiede im Detail.

Die Thesis besteht aus The Mix, The Sans und The Serif.

Oben: Die Thesis besteht aus The Mix, The Sans und The Serif. Von oben nach unten: The Mix Semibold Plain, The Sans Semibold und The Serif Caps.

Die Thesis von Lucas de Groot: Die größte Schriftfamilie mit modernem Anspruch

Die Thesis, mit 500 Schnitten eine der umfangreichsten Schriftfamilien der Welt, kommt mit den drei Varianten The Sans, The Serif und The Mix daher. Sie wurde 1994 von Lucas de Groot aus den Niederlanden entwickelt. Die Thesis hat lange Zeit das Editorial Design, zahlreiche Corporate Design-Projekte und die Werbung typografisch geprägt. Sie war nach ihrem Erscheinen eine sehr angesagte Schrift. Einige Unternehmen haben sie als Hausschrift eingeführt, weil es keinen Einsatzzweck gibt, den sie nicht abdeckt.

Einmalig im Schriftuniversum ist die Lucida-Superfamilie.

Oben: Einmalig im Schriftuniversum ist die Lucida-Superfamilie, die eigentlich für jeden denkbaren Einsatzzweck das entsprechende Familienmitglied vorrätig hält. Hier abgebildet sind aber noch nicht einmal alle Lucida-Varianten. Von oben nach unten: Serif, Sans, Bright, Casual, Blackletter, Calligraphy und Handwriting.

Lucida von Charles Bigelow und Kris Holmes: Die variantenreichste Schrift

Ein Novum ist die wohl variantenreichste Schriftenfamilie der Welt, die Lucida, die es in allen erdenklichen Klassifikationen gibt, auch als Handschrift, Schreibschrift, als gebrochene Schrift, als Monospace-Variante und Kalligraphie-Variante. Den Kern bildet aber ein vergleichsweise klassischer Aniqua- und Groteskentwurf aus 1984/85 von Charles Bigelow und Kris Holmes. Es gibt auch eine Informal-Variante, die insgesamt runder geformt ist und so weniger Details bei Fotokopiervorgängen oder beim Faxen innerhalb der Unternehmens- und Büro-Kommunikation verlieren kann: die Lucida Fax. Die Schriftentwickler sind damit zum einen konzeptionell denselben Weg gegangen wie beispielsweise die Rotis oder die Stone mit ihren neuzeitlichen Zwischenformen. Andererseits haben Bigelow/Holmes den Schwerpunkt auf die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten gelegt.

Schriften ohne informelle Zwischenformen

Jenseits der großen oder sehr großen Schriftfamilien, zu denen die Schriftklassiker Thesis, Rotis, Stone oder Corporate ASE gehören, gibt es inzwischen eine Fülle von Schriftfamilien, die den Brückenschlag zwischen Serif-Form und Nicht-Serif-Form mit wenigen Schnitten und ohne dritte Schriftfamilie dazwischen bewältigen. Es gehört, so könnte man meinen, zur modernen Auffassung von Typografie, dass Schriftfamilien ergänzt und erweitert werden – eben auch um eine Serifenvariante oder eine Groteskvariante.

Die Syntax als eine der gebräuchlichsten und schönsten Groteskschriften.

Oben: Die Syntax als eine der gebräuchlichsten und schönsten Groteskschriften hat im Laufe der Jahre Nachwuchs erhalten. Ab 1995 kamen neue Varianten hinzu. Von oben nach unten: Syntax, Syntax Serif und Syntax Letter. Außerdem gibt es noch die Linotype Syntax Lapidar.

Die Syntax von Hans Eduard Meier: Klassiker runderneuert

Die Syntax, ebenfalls ein Schriftklassiker, der nach ersten Entwürfen in den 1950er-Jahren zwischen 1968 und 1972 realisiert worden war, ist ein Beispiel, bei dem einer Grotesk viel später eine Antiqua an die Seite gestellt wurde. Die Syntax ist typisch für die Tendenz, alte Schriften zu modernisieren bzw. neu zu interpretieren und laufend zu ergänzen, bis man eine Schriftfamilie hat, die sich für jeden Zweck eignet. Eine umfassendere Schrift hat auch mehr Möglichkeiten am Markt.

Oben: Die Schriftfamilie Kievit, noch ohne Serif-Variante.

Oben: Die Schriftfamilie Kievit, noch ohne Serif-Variante.

Kievit von Mike Abbink und Paul van der Laan: Weniger ist mehr

Die Kievit wurde vom amerikanischen Gestalter Mike Abbink zwischen 1995 und 2001 geschaffen. 2013 kam die Kievit Slab hinzu, eine Egyptienne, die von Paul van der Laan mitentwickelt wurde. In ihrer Einfachheit eignet sich die Schrift für viele Einsatzzwecke. Auch der damalige Erfolg der Syntax lag einzig in ihrer schönen Gestalt und universellen Einsatzfähigkeit begründet, die auf einer gestalterischen Reduktion der Formen basierte. Die Kievit ist so gesehen eine zurückhaltende Schrift.

Schrifthistorisch einmalig: Die informellen Fonts

Die klassische Typografie, bei der sich der Gestalter dafür entschied, entweder eine Antiqua oder eine Grotesk zu zeichnen, gehört der Vergangenheit an. Heute zählt eher das Motto „Best of both worlds“. Dabei kommt den neuzeitlichen, informellen Zwischenformen bei erweiterten Schriftfamilien eine entscheidende Bedeutung zu. Denn diese Varianten sind schrifthistorisch betrachtet wirklich etwas Neues. Die Konzeptionen, die Type-Designer verwirklichen, umfassen jedenfalls immer wieder überraschende neue Formen.

Die Officina, abgeleitet von der Meta, hat viel von einer Schreibmaschinenschrift.

Oben: Die Officina, abgeleitet von der Meta, hat viel von einer Schreibmaschinenschrift, entwickelt aber dennoch einen ganz eigenen Charakter.

Die Tisa, bestehend aus Serif-Variante und Sans-Variante.

Oben: Die Tisa, bestehend aus Serif-Variante und Sans-Variante, spielt mit der Abrundung der Serifen aber auch der sich verjüngenden Ausläufer bei der Sans.

Von oben nach unten: Prumo Poster, Prumo Deck Medium, Prumo Banner Book und Prumo Poster Fill.

Oben: Die Spezialität der Prumo-Familie sind die Serifen in differenzierten Feinheitsstufen. Von oben nach unten: Prumo Poster, Prumo Deck Medium, Prumo Banner Book und Prumo Poster Fill. Es gibt noch weitere Display-Schrift-Varianten mit Füllungen und Konturen. Schön zu sehen ist hier, wie fein die Serifen bei der Prumo Poster sind, ähnlich wie bei der Didot.

Oben: Die Scala hat mit der Scala Jewel eine außergewöhnliche Displayschrift im Repertoire.

Oben: Die Scala hat mit der Scala Jewel eine außergewöhnliche Displayschrift im Repertoire.

Die Bodega-Familie kommt aus der Zeitschriften-Typografie.

Oben: Die Bodega-Familie kommt aus der Zeitschriften-Typografie und vereint in beiden Schriftwelten sehr ungewöhnliche Formen, die als Überschriften zum Beispiel in der amerikanischen Ausgabe des Rolling Stone zum Hingucker wurden.

Oben: Die Eureka brilliert in ihrer Antiqua-Familie mit spitz-akzentuierten Serifen.

Oben: Die Eureka brilliert in ihrer Antiqua-Familie mit spitz-akzentuierten Serifen.

Oben: Bei der Salvo liegt die Gestalt der Slab-Serif-Variante sehr nah an der der Sans-Serif-Familie.

Oben: Bei der Salvo liegt die Gestalt der Slab-Serif-Variante sehr nah an der der Sans-Serif-Familie.

Typografiekonzeption: Neue Möglichkeiten, neue Chancen

Nie hatten Gestalter und Typografen so viele Möglichkeiten wie heute. Das ist einmal ästhetisch bedingt, weil die Ansprüche an die Vollständigkeit einer Schriftfamilie eine gestalterische Herausforderung sind. Zum anderen hat die Technologie der digitalen Schriftenentwicklung mehr Durchsatz und Schnelligkeit gebracht. Bestimmte Fettegrade oder Zwischenformen können softwaremäßig zunächst interpoliert werden. Dies hat zu interessanten Ergebnissen in der Multiple-Master-Technologie geführt, bei der man Fettegrade stufenlos einstellen konnte.

Umfangreiche Schriftfamilien wie die Lucida oder die Thesis wären mit herkömmlichen Mitteln – das heißt Alphabet für Alphabet von Hand gezeichnet – kaum mehr vorstellbar. Für den Anwender wäre das einzige Problem die Qual der Wahl, denn ein zunehmend differenziertes typografisches Instrumentarium will sinnvoll eingesetzt werden. In der klassischen Typografie waren zwei verschiedene Schriftarten mit ihren Kursiv- und Fett-Varianten das Maximale, damit ein Entwurf nicht zu verwirrend oder unübersichtlich wirkte. Die Ansprüche haben sich gewandelt. Heute findet man mit den erweiterten Schriftfamilien für jeden Ausdruck seinen Schriftschnitt und seine Schriftfamilie.

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