Wenn Designer den Algorithmus entdecken
Eine neue Generation von Zeichen-Software, oft in Form von Apps aber auch als Webbrowser-Anwendungen, schafft nie da gewesene Möglichkeiten im Bereich der Illustration. Mit diesen algorithmusgesteuerten Zeichenwerkzeugen erstellt man sogenannte „generative“ Illustrationen oder „prozedurale“ Zeichnungen. Dabei nutzt man fraktal anmutende Multilinien oder Muster, die aus Kreisen oder Vielecken bestehen. Der Computer generiert daraus ein neues Look&Feel im illustrativen Design. Die Besonderheit: Die Software erzeugt eine Vielzahl an Linien oder anderen Elementen, die man gar nicht gezeichnet hat.
Oben: Als Handy-Apps sind Kaleidoskope recht beliebt, mit denen man per Finger multisymmetrische Muster erzeugen kann. Die Webapplikation „Silk“, die es auch für das iPhone und das iPad gibt, arbeitet ebenfalls mit solchen Symmetrien und erzeugt dabei sphärische Muster, die nicht so hart abgegrenzt sind, wie ein normaler Zeichenstrich. Die Anzahl der Symmetrieachsen ist dabei bis auf maximal sechs einstellbar.
Bisherige Software ahmt Zeichenwerkzeuge aus der Realwelt nach
Mit dem Aufkommen des PCs als Massentechnologie in den 1970er-Jahren und 1980er-Jahren haben grafische Interfaces oder Grafik-Software mit ihren Werkzeugen versucht, die reale Welt zu imitieren. Es gibt einen „Desktop“, der eine Schreibtisch-Oberfläche simuliert, einen elektronischen Papierkorb oder in Gimp oder Photoshop Pinsel und Lineal. Inzwischen ist die Computer-Technologie ihren Kinderschuhen entwachsen und die Ansprüche haben sich geändert. Das gilt auch für die illustrativen Möglichkeiten.
Oben: Mit generativen Zeichentools wie „Silk“ lassen sich in kürzester Zeit beeindruckende Bilder erstellen und abspeichern. Man kann Schicht um Schicht übereinandermalen.
„Paintography“ zwischen Fotografie und digitaler Filterkunst
Im Bereich der Illustration ist das Maß aller Dinge bis bis heute die Simulation von Zeichentechniken und Malstilistiken aus der realen Welt. Da gibt es Aquarellfilter oder Ölfarbefilter für Photoshop oder andere Bildbearbeitungswerkzeuge, mit denen man Fotos manipulieren kann, damit die wie ein Kunstwerk aussehen. Es gibt sogar eigene Communitys, die artifiziell gefilterte Bilder austauschen und diskutieren, zum Beispiel im Rahmen der so genannten „Paintography“, einer Mischung aus Fotografie und digitaler Filterung.
Oben: Mit „Silk“ zu zeichnen, erfordert etwas Übung. Denn so schnell, wie sich Striche bei nur wenigen Bewegungen mit Maus oder Zeiger aufbauen, so wenig kontrollierbar sind sie. Exaktes Zeichnen ist mit Silk nicht möglich.
„Corel Painter“ als Beispiel perfekter Zeichengeräte-Simulation
Ein Beispiel für eine Software, die sich der Virtualisierung von Maltechniken aus der realen Welt konsequent verschrieben hat, ist „Corel Painter“. Die Stärken des Programmes liegen weder bei der Bildverarbeitung noch beim Filtern vorgegebenen Bildmaterials. Painter ist eher eine virtuelle Leinwand, bei der man sehr realistisch anmutende Papiere oder Leinwandarten als Malhintergrund festlegen kann.
Oben: Eine Palette aus „Corel Painter“, die den Funktionsumfang der Mal- und Zeichensoftware verdeutlicht.
Die Vorteile der digitalen Malerei und Illustration
Auf dem virtuellen Papier mit unterschiedlicher Struktur oder Saugfähigkeit kann man mit Werkzeugen, die Maltechniken und Zeichenwerkzeuge der wirklichen Welt simulieren. Man kann mit der Maus per Bildschirm oder per Grafiktablett und elektronischem Stift malen oder zeichnen. Der Unterschied zum herkömmlichen Malen liegt wie bei jeder Digitalillustration oder virtuellen Malerei im Rückgängigmachen von Arbeitsschritten bzw. in der Arbeit auf Ebenen, die mehr Korrekturen, Änderungsmöglichkeiten und Flexibilität erlauben.
Oben: Zwei Generative-Art-Apps auf dem iPad. Links ein Screenshot von „Bubble Harp“, mit dem man Linien spinnennetzartig (mit Musik unterlegt) zu Flächen verbinden kann. Rechts „Microfiber“, mit dem man aus winzig kleinen Knotenpunkten komplexe organisch anmutende Symmetrie-Muster erzeugen kann. Viele Apps wie „Bubble Harp“ laufen auch ohne eigenes Zutun automatisch ab und erzeugen dabei gemäß eines vorgegebenen Regelsatzes Muster.
Ansprüche des generativen Illustrierens
Softwarelösungen wie „Adobe Photoshop“ oder „Corel Painter“ sind noch weit entfernt von den Möglichkeiten generativen Malens oder Zeichnens. Denn die generative Software will nicht mehr nur die reale Welt simulieren und nachahmen, sie will eigene Ästhetiken, also eigene visuelle Werkzeuge schaffen, die beim Zeichnen oder Malen zu anderen Ergebnissen führen als der reale Pinsel oder der echte Bleistift. Es geht um Zeichenstile, die man so noch nie gesehen hat und die man manuell nicht (so einfach) realisieren könnte.
Oben: „Code::Brush“ bietet eine verblüffend variantenreiche Auswahl an Stilen, sowohl in schwarz/weiß als auch in farbig.
Mensch und Maschine in trauter Eintracht bei neuen Illustrationstechniken
Die ersten zaghaften Anfänge des generativen Zeichnens haben Illustrationsprogramme wie „Macromedia Freehand“ oder „Adobe Illustrator“ schon vor langer Zeit unbemerkt vollführt. Wenn dort zum Beispiel illustrative Grafikelemente kombiniert und als frei skalierbare Vektorgrafiken per Sprühdose aufgetragen wurden – was sehr komplexe Muster oder Gesamtillustrationen ergeben konnte – dann ist damit schon etwas realisiert worden, was in der Form im grafischen Vorcomputer-Zeitalter nicht möglich war. Auch kann man Grafiken schon seit langer Zeit mit Linien verknüpfen und sie damit praktisch zu illustrativen Linien oder Mustern machen – alles Schritte in Richtung einer neuen Digitalästhetik und der Anwendung eines neuen grafischen Verständnisses, das über die Möglichkeiten menschlicher Handarbeit grundlegend hinausgeht.
Oben: Eine Illustration in der Webapplikation „Harmony“, die in wenigen Sekunden mit ein paar Strichen erstellt wurde. Das Programm fügt den Hauptstrichen viele kleine Ausläuferstriche hinzu, sodass sich insgesamt eine softere Anmutung und der Anschein von illustrativer Komplexität ergeben. Es lassen sich verschiedene Stricharten einstellen, die mehr oder weniger „ausgefranst“ sind.
Grafische Algorithmen für neue Bildwelten
Das Mittel der generativen Kunst oder der generativen Illustration sind Algorithmen, die bestimmte Ausdrucksformen wie Strichführungen oder deren Bewegungen nach einem programmierten Schema vorgeben. Deutlich wird das am Beispiel der Pionier-Webbrowser-Applikation Harmony, die verschiedene Stricharten zur Verfügung stellt. „Harmony“ firmiert als App unter Android als „Sketcher“ bzw. „Sketch n go“, die beide dieselben Algorithmen nutzen. Auch andere Programme nutzen diese Werkzeuge und ihre Anzahl wird zunehmend größer.
Oben: „Flowpaper“ auf dem Apple iPad unter iOS (links) erzeugt sehr feine Parallel-Linienstrukturen. „Silk Paints“ unter Android auf Samsungs „Galaxy Note 3“ erzeugt kantenbetonte sphärische Rundungen.
Der Illustrator als Programmierer?
Dabei kann sich die Rolle des Illustrators verändern: War er bisher kreativ oder handwerklich im gestalterisch-schöpferischen Sinne tätig, kommen nun programmiertechnische Anforderungen und Sichtweisen auf ihn zu. Denn es gibt zunehmend Programmier-Code und Baukasten-Tools, die grafische Funktionalitäten zur Verfügung stellen, um solche generativen Konzepte zu realisieren. Zwar gab es bisher eine Arbeitsteilung zwischen Design und Programmierung aber spätestens beim Webdesign hat sich gezeigt, dass der Gestalter, der programmieren kann, die größeren Möglichkeiten hat, Form und Funktion zu einer idealen Synthese zu führen. Deutlicher wird das aber in der generativen Kunst, bei der Programmierungen eine immer größere Rolle spielen und integraler Bestandteil oder sogar der Kern des interaktiven Kunstwerks sind.
Wirklich innovativ: Prozedurales Zeichnen
Beim generativen Design entscheidet der Gestalter mit dem Einsatz einer bestimmten Programmierung, wie die grafischen Funktionalitäten und – davon abgeleitet – die Illustrationen aussehen werden. Die Software verabschiedet sich in diesem Bereich des Illustrations-Designs von den tradierten Vorgaben des Zeichnens von Menschenhand. Das ist wirklich neu.
PulsArt zwischen angewandter Illustration und Kunst
Oben: Im Video ist ein anderes generatives Illustrations-Konzept zu sehen, auf dem die Software „PulsArt“ beruht. Dabei werden parallele Linien zu Kurvenbergen modelliert. Interessant ist auch das grafisch außergewöhnliche Interface-Design.
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